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NARR. WOHNHAFT MÜNSTERGASSE 62



Narr. Wohnhaft Münstergasse 62. Er ist in die Jahre gekommen und hat's nicht immer leicht. Hört man sagen. Wie's scheint, nähme er sich Freiheiten heraus, sei bisweilen ungestüm, ja töricht, so munkelt man in der Gasse. Doch, die löblichen Herrschaften aus alter Zeit sind fern. Sein Leben hat auch Schattenseiten. Allzu gerne würde er wohl seinen Kropf leeren, dem Unbill des Lebens die Zunge herausstrecken. „Ja, damals mit dem Diplomaten Bartholomäus May, das waren noch Zeiten“ sinniert er betrübt (ich möchte ihm beipflichten, halte mich aber wohlweislich zurück). Mit dem polygonalen zweistöckigen Erker hätte man 1515 die beiden Häuser zusammengefasst.


Er, als Atlant (männlicher muskulöser Gebälkträger) mit Narrenkappe, trage symbolisch seither die ihm aufgebürdete Last. Lakonisch meinte er: „Dann haben sie mir im 1895 anstelle der Holzkonstruktion das dritte Geschoss in Sandstein aufgeladen, vom mächtigen Spitzhelm obendrauf ganz zu schweigen", ergänzt er zerknirscht. Sich der umstehenden Leute gewahr werdend, schien ihm zudem die Lust an einem weiteren Austausch vergangen zu sein - seine herausgestreckte Narrenzunge erschien mir Beweis genug.


Ich konnte dann glücklicherweise anderweitig in Erfahrung bringen, dass nach etlichen Erbgängen in der Familie May die Liegenschaft im Jahr 1751 von einem gewissen Julius Hyronimus Ougsburger, seines Zeichens Landvogt von Köniz, erworben werden konnte. Das zuerst als „Einfamilienhaus“ konzipierte Gebäude, wurde bereits um 1700 einer intensiveren, geschossweisen Wohnnutzung zugeführt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts dann, gelangte der Erker zu einer durchgreifenden Renovierung. Für den Architekten Eugen Stettler musste das Vorhaben vor dem Hintergrund des kurz davor vollendeten Münsterturms (oberes Turm-Oktogon und Turmhelm) verstanden werden. Für ihn (und auch für etwaige Gass-ab Wandernde) ergab so die Vertikalisierung des Erkers eine bauliche wie auch optische „Verwandschaft“ im Verbund mit dem Turm des Münsters.


Am 17. Dezember 1980 erwarb die Burgergemeinde Bern das „Obere May-Haus“ an der Münstergasse 62 und liess während vier Jahren Erker, Gebäude und Fassaden instand stellen und renovieren. Ich selbst kam nicht umhin IHM, nach vorhergehender Beratung in der Rathausapotheke, zur Pflege seiner lädierten Nase ein narrensicheres „Hausmittelchen“ zu verschreiben…


sw






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